Für die Lehrbücher: Das PR-Desaster des Lutz Heilmann
Bitte nicht falsch verstehen, aber ich muss Lutz Heilmann dankbar sein. Was kann man sich als Blogger über PR und Web 2.0 besseres wünschen, als dieses PR-Desaster? Ich bin überzeugt das wird als Fallbeispiel in Lehrbücher eingehen. Und zwar ganz im Sinne von: Jeder hat seine Daseinesberechtigung, und sei es nur als schlechtes Beispiel.
Die Vorgeschichte:
Lutz Heilmann ist seit 2005 Mitglied des Bundestages für die Linkspartei. An für sich nichts besonderes aber Lutz Heilmann hat ein Problem. Und das ist die Interpretation seiner Vita. Heilmann gibt auf seiner Bundestagsseite an
1985 bis 1990 verlängerter Wehrdienst (Personenschutz MfS).
Das ist ein wenig diffizil in der Kommunikation, denn diese Klausel sagt nicht explizit, dass Heilmann – zumindest nach Interpretation des SPIEGEL – hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi war.
Heilmann ist der erste hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter, der jetzt als Abgeordneter im Deutschen Bundestag sitzt.
Das ist natürlich eine unangenehme Angelegenheit, die man am liebsten nicht im Internet herumstehen haben möchte. Ganz besonders nicht in der Wikipedia, die seine Stasi-Vergangenheit in aller Deutlichkeit darstellte (an dieser Stelle ein Link zur Historie des Wiki-Artikels, weil der Artikel mittlerweile stark abgeändert wurde). Der Aufhänger ist für Heilmann sind auf dem Wiki-Artikel zitierte Berichte, wonach lt. Heise
die Immunität des Abgeordneten im Oktober aufgehoben worden sei, weil er einen Bekannten per SMS bedroht haben soll. Heilmann bestreitet sowohl Drohung als auch eine Aufhebung der Immunität.
Die Klage:
So kann man das natürlich nicht lassen. Heilmann zieht vor Gericht, um den unliebsamen Beitrag aus der Wikipedia nehmen zu lassen. Ich finde es interessant, dass die Klage überhaupt in Erwägung gezogen wurde, denn es gibt reihenweise letztinstanzliche Urteile, die dagegensprechen. Das interessanteste ist sicher Oberschlick II: Ist zwar aus Österreich, die Klage wurde aber vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt. Und der entschied:
Ein Politiker habe zwar auch Anspruch auf Schutz seines guten Rufes, müsse sich aber in der öffentlichen Auseinandersetzung mehr Kritik gefallen lassen. Die Erbringung eines Wahrheitsbeweises für Werturteile ist unmöglich.
Ich finde das trifft auch erheblich auf die Causa Heilmann zu.
Das Ergebnis:
Das Ergebnis kann sich sehen lassen, denn am 13.11. verfügt ein Gericht in Lübeck, dass die Deutsche Domain Wikipedia.de nicht mehr auf de.wikipedia.org weiterverlinken darf, solange „bestimmte Äußerungen“ gegen den Kläger vorgehalten werden. Das Gericht konnte die Wikipedia zwar nicht abstellen (die ist in Amerika), wohl aber den deutschen Link (siehe Bild). Das ist ein Phyrrus-Sieg für Heilmann. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist der Artikel nachwievor im Netz verfügbar (auch in Google), und zweitens kommt die Sperrung der Wikipedia.de durch einen Politiker einer Kampfansage gegen die Internet-Community gleich. Heilmann hat also nichts erreicht, außer, dass er jetzt praktisch das gesamte deutsche Internet gegen sich aufgebracht hat.
Das Feedback:
Mich würde ja interessieren, wie lange der Linke-Politiker ein Gefühl des Triumphes über das freie Internet hatte und ab welchem Zeitpunkt ihm und den Oberen der Linkspartei klar wurde, dass sie sich soeben in den wahrscheinlich größten Internet-PR-Gau in Deutschland hineinmanövriert hatten. Ich würde sagen, spätestens bei der Lektüre des täglichen Pressespiegels müsste klar gewesen sein, dass das nicht so richtig klug gewesen ist. Zumindest wäre ich dieser Meinung gewesen.
Die Deutsche Online-Medienlandschaft überschlägt sich. Stand 16.11. zählt Google-News 724 Meldungen klassischer Online Medien über den Fall. Praktisch keiner davon ist positiv. Die sonst eher linke TAZ stichelt z.B.
Es gibt eine recht einfache Methode, die Aufmerksamkeit einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu erreichen: Man mache sich viele Feinde. Das geht sehr schnell und ressourcenschonend, indem man einer gesellschaftlich weithin akzeptierten und geschätzten Institution in effizienter Weise Schaden zufügt.
Auch im Web 2.0 geht die Post ab. Technorati listet (Stand 16.11.) 1380 Resultate. Google Blogsearch 1810.
Quasi alle großen deutschen Blogs nehmen sich des Themas an, darunter:
Netzpolitik (reiner Bericht),
Fix MBR „Internet nicht verstanden, Wikipedia ebenso wenig – Alternative zu der SPD? Nein. Links ist anders, Links ist transparent, freiheitlich„.
Nerdcore „Da schreibt man immer und immer wieder, dass die Linke nicht so übel ist, wie man immer behauptet, zeigt Videos von Lafontaine und Gysi, diskutiert in den Kommentaren und dann kommt Lutz Heilmann und schießt den Sympatisanten der Linken im Netz ein Riesenloch ins Knie…„
Spreeblick (Bericht)
Lawblog (Bericht)
Sogar im Ausland setzt sich der Sturm der Entrüstung fort:
in den USA (Techcrunch), den Niederlanden (Dutch Cowboys), China, glaub ich (cn beta). Ein wahrhaft internationaler Aufruhr, ganz nach dem Motto: Völker hört die Signale 🙂
Aber das ist noch nicht alles. Der Wiki-Artikel, denn Heilmann abstellen wollte ist zeitweise der weltweit am häufigsten aufgerufene. Und auch in den Social Networks gehts ab. In Twitter. Auf Facebook. Im StudiVZ.
Wow! Soviel Negatives Feedback hat wohl noch keine Einzelperson im Netz auf sich vereinigt. Und immer wieder der Konnex zur Linkspartei, die eins-zu-eins am guten Image partizipiert.
Das Zurückrudern:
Bereits am darauffolgenden Sonntag (16.11.) ist der Druck zu groß geworden. Heilmann rudert zurück und entschuldigt sich.
Das Fazit:
In dieser Episode ist beispielhaft dargestellt, wie sich die Machtverhältnisse im Web 2.0 geändert haben. Gegen die geballte Macht der partizipativen Öffentlichen Meinung ist mmit Gerichtsurteilen nicht anzukommen. Hier zeigt sich: Gerade in der Politik herrscht immenser Nachholbedarf in Sachen Kommunikation im neuen Web. Heilmann und die Linke haben hier alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Das Web 2.0 ist tendenziell eher politisch Links (zumindest nach meiner Erfahrung). Diese Wählerschichten hat man auf absehbare Zeit vergrault.
Man muss aber auch kritisch die Frage stellen, in wie fern solche Effekte zu einer de facto Abschaffung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit beitragen. Denn die Sperrung wurde immerhin von einem ordentlichen Gericht erwirkt. Dass dieses Urteil praktisch nach öffentlichem Druck aufgehoben wurde, macht mich etwas nachdenklich. Gut in diesem Fall war das sicher OK und ich glaube, die Klage hätte einer Berufung oder Revision nicht standgehalten. Aber es gibt genügend andere Szenarien, in denen ich sowas gar nicht gut fände. Ich hoffe, dass die Web-Community dieses Problem aufgreift und diskutiert
Die Frage ist: Wie geht man mit der neuen kollektiven Macht um.
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Ein fast ebenso anschauliches Beispiel ist die stümperhafte PR des DFB bzw. seines Präsidenten 20er und seines releaseschreibenden Pressesprechers gegen einen bloggenden Sport-Journalisten namens Jens Weinreich. Während sich bei Heilmann ein doofer David mit einem schlauen Goliath angelegt und nach einiger Zeit die adäquate Häme eingefahren hat, war’s hier wie im Alten Testament: mit dem lieben David haben sich fast alle (der frühere Lohn-PR’ler des DFB – jetzt beim „Kicker“ – hat sich nicht so recht dazu durchringen können) gegen den Ellenbogen-Goliath solidarisiert und das Gericht war auch auf der Seite des Kleinen. Da mußten die Technorati-Kurven doch einfach durch die Decke gehen und schon stimmt die schöne heile Blogger-Welt wieder einmal.
Ohne die Berichterstattung in den konventionellen Medien hätte doch nur ein Bruchteil der Öffentlichkeit Kenntnis von Herrn Heilmann erlangt. Und wenn er nicht von der „Linken“ gewesen wäre, wären die Medien wahrscheinlich auch gnädiger mit ihm umgegangen. Also, Ihr Blogger, überschätzt Euch ‚mal nicht!
Da hat der Herr Heilmann nun mehrfach Pech gehabt, oder eigentlich auch nicht Pech gehabt, sondern Unvermögen an den Tag gelegt. Juristen – ein solcher ist Herr Heilmann ausweislich seines Studienabschlusses – stellen eigentlich keine Prognosen wie das die Wirtschaftswissenschaftler oft tun, sondern analysieren einen Sachverhalt, indem sie ihn in Wichtiges und Unwichtiges aufteilen und treffen dann eine Entscheidung, für sich oder für andere. Da ist dem Herrn Heilmann bei seinem Schnellschuß das meiste von seiner juristischen Denke abhandengekommen.
Das Gericht konnte in einem Verfahren auf einstweiligen Rechtschutz kaum anders entscheiden. Ich bin sicher, wenn es zur Verhandlung in der Hauptsache gekommen wäre, hätte das Gericht ähnlich entschieden wie in der zitierten Oberschlick-II-Entscheidung. Deren Fazit lautet, daß eine Ehrabschneidung bei einem Politiker schwieriger ist als bei Otto Normalverbraucher, vielleicht weil er weniger zum Abschneiden hat. Dafür jedenfalls hat Herr Heilmann ein eindrucksvolles Beispiel geliefert.
Stimmt, das ist (war) ein ziemlich hysterisches Wochenende. Und genau diese Tatsache gehört in die Lehrbücher. Mir ist auch im Prinzip egal, ob die Wahrnehmung über LH korrekt ist und die Medien und Blogosphäre evtl. überreagiert haben. Interessant ist die Tatsache, dass das medial so abgelaufen ist, wie es ist, denn dass war bisher so im Zusammenhang mit Internet-Seiten (ok, die Wikipedia ist sicher nciht irgendeine Website) noch nicht da. Deswegen auch mein letzter Absatz im Artikel.
Im Übrigen wird man die wahre Begründung für LH’s Klage sowieso nie erfahren und wenn er sie doch preisgibt, wird sie so oder so nicht glaubwürdig sein. Die Kategorie „wahr“ halte ich im Zusammenhang mit Medien eh für völlig falsch. Was im übrigen auch die Blogosphäre betrifft.
Hi Flo – Schöne Zusammenfassung! Die Ursache für Heilmann’s juristischen Amoklauf scheint jedoch nicht (oder nicht nur) in seiner Vergangenheit als Stasi-Mitarbeiter zu liegen. Da bringt Alexander Svensson vom Wortfeld ein paar zusätzliche Perspektiven.
Am Samstag postet er dies: http://www.wortfeld.de/2008/11/begrundungslos/
Und heute dann noch ein paar Bemerkungen zu „Fehlwahrnehmungen“, die ich angesichts der schon fast hysterischen Reaktion in der Blogosphäre sehr bedenkenswert finde:
http://www.wortfeld.de/2008/11/wikigoliath/
Bevor das alles in den Lehrbüchern landet, hoffe ich, dass die Geschichte vorher komplett durchrecherchiert wird. Leider geht das in der Aufregung und Geschwindigkeit der gegenseitigen Hochschaukelung bisweilen verloren.
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